F. Beer u.a. (Hrsg.): Von der letzten Zerstörung. Die Zeitschrift „Fun letstn churbn“ der Jüdischen Historischen Kommission in München 1946–1948

Titel
Von der letzten Zerstörung. Die Zeitschrift „Fun letstn churbn“ der Jüdischen Historischen Kommission in München 1946–1948


Herausgeber
Beer, Frank; Roth, Markus
Reihe
Eine Publikation der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Justus-Liebig-Universität Gießen
Erschienen
Berlin 2021: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
1.032 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lea von der Hude, Editionsprojekt PMJ am Institut für Zeitgeschichte in Berlin und Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Unmittelbar nach ihrer Befreiung schlossen sich in mehreren Ländern Europas jüdische Überlebende zu Historischen Kommissionen zusammen, um Zeugnisse zusammenzutragen, die die Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden aus der Perspektive der Verfolgten dokumentieren und das Ausmaß der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik offenbaren sollten. Darunter war auch die am 28. November 1945 auf Initiative der Überlebenden Israel Kaplan und Moshe Yosef Faygenboym gegründete Zentrale Historische Kommission („Tsentrale Historishe Komisye“, ZHK/TsHK) in München.

Nach Kriegsende befanden sich auf dem Gebiet der drei westlichen Besatzungszonen etwa 60.000 bis 70.000 jüdische Überlebende, die in Konzentrationslagern oder auf Todesmärschen befreit worden waren und von den Alliierten in Lagern für „Displaced Persons“ (DPs) untergebracht wurden, wo sie auf Ausreisegenehmigungen – vornehmlich in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina – warteten.1 Die ZHK erkannte, dass in den DP-Camps, in denen sich die Überlebenden noch für eine kurze Zeit befanden, Erinnerungen gesammelt und damit die Grundlagen für eine Geschichtsschreibung der Shoah aus jüdischer Perspektive geschaffen werden konnten. Im August 1946 gründete die ZHK daher ihr eigenes Publikationsorgan: die jiddischsprachige Zeitschrift „Fun letstn churbn“ („Von der letzten Zerstörung“), in der ein Teil des gesammelten Materials veröffentlicht wurde und die zugleich einen Erinnerungsraum für die Ermordeten darstellen sollte. Nach der Staatsgründung Israels, mit der eine Massenauswanderung der She’erit Hapletah („Rest der Geretteten“) aus den DP-Camps in Deutschland einsetzte, wurde das Projekt der ZHK Ende 1948 beendet und der Quellenbestand 1949 in das Archiv der Gedenkstätte Yad Vashem überführt. Mit der von Frank Beer und Markus Roth herausgegebenen sowie von Susan Hiep, Sophie Lichtenstein und Daniel Wartenberg ins Deutsche übersetzten Edition „Von der letzten Zerstörung. Die Zeitschrift ‚Fun letstn churbn‘ der Jüdischen Historischen Kommission in München 1946–1948“ liegt seit Dezember 2020 nun erstmals eine deutschsprachige Ausgabe dieses einzigartigen Projekts vor.

Die Notwendigkeit des Sammelns von Quellenmaterial aus jüdischer Perspektive zeigte sich für die ZHK in einer Fixierung auf die Täterdokumente, die sie unter anderem seit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen beobachtete. In der ersten Ausgabe schrieb und kommentierte der Herausgeber Faygenboym dazu: „Diese ganzen Dokumente sind doch bloß ein kleines Fragment unserer Tragödie. Sie zeigen nur auf, wie die Mörder uns gesehen und behandelt haben. [...] Auf welcher Grundlage wird sich der Historiker in Zukunft ein Bild von dem machen können, was sich in den Ghettos abgespielt hat?“ (S. 48)

Der kommentierten Übersetzung der Zeitschrift ist zunächst eine ausführliche Einleitung vorangestellt, in der der Mitherausgeber Markus Roth einen gelungenen Überblick über den Entstehungskontext der ZHK, ihre zentralen Akteure und die Intention der Zeitschrift gibt. Die Edition selbst enthält eine vollständige Übersetzung der insgesamt zehn Nummern von „Fun letstn churbn“, die zwischen August 1946 und Dezember 1948 in jiddischer Sprache erschienen. Dank der Edition von Beer und Roth werden damit in den Zeugnissen unterschiedliche zeitgenössische Perspektiven der Überlebenden sichtbar. Den ersten Teil einer jeden Ausgabe bilden dabei Zeugenberichte der Überlebenden, während der Zweite aus festen redaktionellen Sparten besteht. Zu letzteren zählen unter anderem „Aus unserer Liedersammlung“, „Aus dem Dokumentenarchiv“ sowie „Aus unserer Bildersammlung“. Hier sind Lieder, Reime und Gedichte versammelt, die in Konzentrationslagern und Ghettos entstanden, darüber hinaus auch Faksimiles von Täterdokumenten sowie Fotografien, die unter anderem die Deportationen, Massenerschießungen, Zwangsarbeit, öffentliche Schikanen gegenüber der jüdischen Bevölkerung oder die Beteiligung der lokalen Zivilbevölkerung dokumentieren. Konvolute wie „Der Volksmund in der Schraubzwinge des Naziregimes“, „Begriffe und Anekdoten aus dem Ghetto“ und „Folklore – Ghetto- und KZ-Redensarten“ enthalten spezifische Redewendungen der Ghettosprache, ebenso wie Ausdrücke, mit deren Hilfe sich die Häftlinge der Konzentrations- und Vernichtungslager im täglichen Überlebenskampf heimlich verständigten und informierten.

Neben den redaktionellen Sparten stehen die Zeugenberichte, die entweder von den Überlebenden selbst verfasst oder als Zeugenaussagen von der Kommission protokolliert wurden, im Zentrum der Zeitschrift. Die insgesamt 99 in „Fun letstn churbn“ veröffentlichten Berichte von Überlebenden stellen aber nur einen Bruchteil der insgesamt 2.536 Berichte dar, die die ZHK von 1946 bis 1949 zusammentrug. Die „Tätigkeitsberichte“ in „Fun letstn churbn“ geben indes Einblicke in die frühe Forschungsarbeit, die die Überlebenden leisteten: Um so viele Informationen wie möglich zu sammeln, erstellte die Kommission diverse, auf unterschiedliche Zielgruppen zugeschnittene Fragebögen, darunter neben einem historischen Fragebogen auch einen Bogen speziell für Kinder und einen Fragebogen für deutsche Landräte und Oberbürgermeister, mit dem man Informationen über die jüdischen Häftlinge in den Konzentrations- und Zwangsarbeiterlagern des ehemaligen Deutschen Reich einzuholen suchte. In Aufrufen, die sie in der She’erit Hapletah-Presse und in „Fun letstn churbn“ selbst veröffentlichte, appellierte die Kommission zudem an die Überlebenden, in den ZHK-Zweigstellen Zeugnis für die Nachwelt abzulegen.

Der thematische Schwerpunkt der in der Zeitschrift veröffentlichten Zeugenberichte liegt auf den vernichteten jüdischen Gemeinden Ostmitteleuropas – ein Viertel der Berichte dokumentiert die systematische Ghettoisierung, Deportation und Ermordung der lokalen jüdischen Bevölkerung durch die Deutschen. Den Fokus legt „Fun letstn churbn“ dabei vor allem auf die Geschichte kleiner jüdischer Gemeinden wie Volozhin im heutigen Belarus, Dubno in der Ukraine oder dem polnischen Siedlce. Artikel über die großen jüdischen Zentren wie Łódź, Krakau, Warschau oder Lublin finden sich in der Zeitschrift hingegen nicht. Diese Akzentuierung zeigt sich auch in den zahlreichen Berichten über den jüdischen Widerstand. So enthält „Fun letstn churbn“ keinen Bericht über den berühmten Aufstand im Warschauer Ghetto, während Texte wie Mendel Mans „Der Aufstand im Tutschyner Ghetto“ vielmehr vergleichsweise unbekannte Aufstände ins Zentrum rücken.

Den zweitgrößten Themenkomplex der Zeitschrift bilden Berichte über die Lebens- und Arbeitsbedingungen und den täglichen Überlebenskampf in den Ghettos: So dokumentiert beispielsweise Shmuel Glube in seinem Bericht „Speisen im Lodzer Ghetto“ den Hunger im Ghetto Litzmannstadt und beschreibt detailliert, mit welchen „Gerichten“ sich die Menschen in ihrer Not zu ernähren versuchten. Raphael Levin hingegen widmet sich im Text „Frauen im Ghetto Kaunas“ der spezifischen Situation jüdischer Zwangsarbeiterinnen.

Besonderen Wert legte die ZHK darauf, den überlebenden Kindern eine Stimme zu verleihen. So enthält jede Ausgabe ab der dritten Nummer den Bericht eines Kindes unter dem Titel „Meine Erlebnisse während des Krieges (Aus der Reihe Kinderaufsätze)“, der das Leid der Kinder und Jugendlichen dokumentiert und Einblicke in ihre frühen Erinnerungen an die Shoah gibt.

Der geographische Schwerpunkt der Berichte liegt auf dem Baltikum, Polen und der Ukraine, nicht enthalten sind hingegen Texte über die Situation der westeuropäischen Juden. Diese Schwerpunktsetzung der Zeitschrift erklärt sich durch die Traditionslinie einer Kultur des zamlens („Sammelns“), die sich in Ostmitteleuropa – dem damaligen Zentrum jüdischen Lebens – entwickelt hatte: Jüdische Intellektuelle hatten angesichts der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmenden antisemitischen Gewalt begonnen, sowohl die zahlreichen Pogrome mittels Zeugenaussagen zu dokumentieren als auch Zeugnisse und Quellen der jüdischen Kulturgeschichte zu sammeln und zu bewahren. Bereits die (Untergrund-)Archive in den Ghettos von Warschau, Białystok und Litzmannstadt hatten sich in ihrer Sammlung von Beweismaterial des systematischen Massenmords an diesen Dokumentationsprojekten orientiert. Die ZHK in München knüpfte nach Kriegsende schließlich mit dem Zusammentragen von historischem Material und mit ihrem Zeitschriftenprojekt „Fun letstn churbn“ an diese Traditionslinie an.

„Fun letstn churbn“ als eines der frühesten Dokumentationsprojekte der Shoah ist Ausdruck der Forderung von Überlebenden, der täterfixierten Geschichtsschreibung entgegenzutreten und stattdessen eine Erforschung der Shoah zu etablieren, die die Perspektive der Verfolgten einbezieht. Für die Forschung, die sich vor allem in Deutschland lange auf die Quellen der Täter stützte, sind diese frühen Zeugnisse der Überlebenden von unschätzbarem Wert. Inzwischen liegen mehrere Studien zur Arbeit der jüdischen historischen Kommissionen in den Nachkriegsjahren vor, besonders Laura Jockusch hat mit „Collect and Record! Jewish Holocaust Documentation in Early Postwar Europe“ 2012 eine umfassende Monografie zu den Kommissionen in Polen, Frankreich, Deutschland, Österreich und Italien vorgelegt. Dennoch ist der Verdienst der Überlebenden und ihr Beitrag zur Erforschung der Shoah einer breiteren Öffentlichkeit noch immer nicht bekannt. Den Herausgebern ebenso wie den Übersetzerinnen und Übersetzern von „Fun letstn churbn“ ist es gelungen, durch einen sensiblen Umgang mit den Quellen und eine diskrete Kommentation nach 72 Jahren einen Zugang zu diesem einzigartigen Dokumentationsprojekt zu schaffen. In „Fun letstn churbn“ wollten die Überlebenden die Geschichte der von den Deutschen vernichteten jüdischen Gemeinden Ostmitteleuropas schreiben. Mit den Zeugenberichten ebenso wie mit den Sammlungen von Redewendungen und Liedern aus Ghettos und Konzentrationslagern setzten sie den Ermordeten und dem täglichen Überlebenskampf der Jüdinnen und Juden in der Shoah ein frühes Schriftdenkmal.

Anmerkung:
1 In der sowjetischen Besatzungszone fand keine gesonderte Erfassung von „DPs“ statt.

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